der wilde Hund

Sind Zeitaufnahmen nicht mehr wichtig?

Sind Zeitaufnahmen nicht mehr wichtig?

Autorin: Heide Fischer

Heide Fischer ist Wirtschaftsingenieurin, REFA-Industrial Engineer und Lean-Expertin. Als Computerspezialistin hat sie sich der Weitergabe ihrer Erfahrungen in der Prozessoptimierung mit digitalen Templates und Onlinekursen verschrieben. Sie ist davon überzeugt, dass durch die Verknüpfung der Online- und Offline-Beratung große Effizienz-Potenziale erschlossen werden können.

15. September 2017

VON HEIDE FISCHER

Sind Zeitaufnahmen nicht mehr wichtig?

In Zeiten fortschreitender Automatisierung und Digitalisierung fragt sich der eine oder andere vielleicht schon, ob die gute alte Zeitaufnahme mit der Stoppuhr nach REFA überhaupt noch ihre Berechtigung hat.

Ich bin für Zeitaufnahmen!

Ich bin der Meinung, dass es nicht möglich ist, ein Unternehmen effizient zu führen, wenn keine aktuellen Zeitdaten zur Verfügung stehen. Um an Zeitdaten zu kommen, gibt es verschiedene Möglichkeiten und Wege – nicht nur, aber auch Zeitaufnahmen. In meinem Blogartikel „Sind Zeitaufnahmen nicht mehr wichtig?“ – Auftakt meiner dreiteiligen Artikelreihe zum Thema Zeitaufnahmen – stelle ich die Vorteile von Zeitaufnahmen vor.

Wie fing mein REFA-Leben an?

Zuerst möchte ich aber einen kleinen Rückblick machen. Vor knapp 20 Jahren habe ich meine Ausbildung zum REFA-Industrial Engineer und zur REFA-Betriebswirtin für Controlling gemacht. Diese Ausbildung hat damals ein ganzes Jahr in Vollzeit gedauert. Finanziert wurde mir das freundlicherweise vom Arbeitsamt, da ich aufgrund meiner Heirat meinen alten Job aufgegeben habe und nach Dortmund umgezogen bin. Hier habe ich dann nach einer Zeit der Arbeitslosigkeit diese Qualifizierung finanziert bekommen und ich bin heute noch froh, dass ich diesen Kurs besucht habe. Mir REFA erlernt man das Handwerkszeug, das Rüstzeug der Prozessoptimierung. In meinem Keller habe ich Regale voller REFA-Ordner und wenn ich sie gelegentlich in die Hand nehme, bin ich immer wieder überrascht, wie vielseitig, leicht anwendbar und aktuell dieses Wissen immer noch ist.

Der Bonus der REFA-Methodenlehre

Das Herzstück der REFA-Methodenlehre ist natürlich die Vorbereitung, Durchführung und Auswertung von Zeitaufnahmen. Diese REFA-Methodenlehre hat einen besonderen Bonus: Sie ist von Arbeitgeberseite und Arbeitnehmerseite beiderseits als Standardmethode anerkannt und akzeptiert. Zeitaufnahmen berühren ja häufig einen besonders sensiblen Bereich der Unternehmensführung: Die Entlohnung. Die Technik der Zeitaufnahmen ist daher sorgfältig durchdacht und detailliert vorgeschrieben. Dadurch wird eine Zeitaufnahme aber auch besonders wertvoll. Korrekt vorbereitet, durchgeführt und ausgewertet liefert sie zuverlässige und reproduzierbare, statistisch abgesicherte Daten. Allerdings bekommt man diese Daten nicht zum Nulltarif. REFA-Zeitaufnahmen können sehr teuer werden, wenn eine definierte statistische Sicherheit erreicht werden soll. Diesen Aufwand scheuen viele Unternehmen.

Zeitaufnahmen versus Technik

Mechanische Stoppuhr (die Insider wissen – nicht mit Hundertstel Minuten)

Das REFA-Know-How schwindet in den Unternehmen

Meine Erfahrung als Unternehmensberaterin zeigt mir auch, dass das REFA-Know-How in den Unternehmen so langsam verschwindet. In den 90ger Jahren haben große Unternehmensberatungen den Unternehmen radikale Kürzungen der Overheadkosten verordnet. Diesem Rotstift sind allzu oft auch die Abteilungen der Arbeitsvorbereitung zum Opfer gefallen. Eine andere Ursache ist die Digitalisierung der Produktionsdatenerfassung nach dem Motto: „Wir haben ja die BDE-Daten, wir brauchen keine Zeitaufnahmen mehr!“ (Dass diese Daten auch von Fachleuten ausgewertet werden müssen, wird dabei häufig ignoriert.) Die echten Kenner der REFA-Lehre, die REFA-Techniker und -Prozessorganisatoren, sind inzwischen häufig jenseits der 50 und Nachwuchs ist nicht in Sicht. Von dieser Situation leben etliche Unternehmensberater ganz gut. Meist als „Einzelkämpfer“ unterwegs, führen sie in den Unternehmen die notwendigen Zeitmessungen durch und kassieren dafür sehr viel Geld. Wenn die Berater das Haus wieder verlassen, nehmen sie allerdings auch ihr Wissen und ihre Erfahrung mit. Dann leben die Unternehmen eine Zeit lang mit den erhobenen Daten, die aber so nach und nach veralten – bis dann wieder ein Unternehmensberater ins Haus geholt wird. Die große Frage ist jetzt: Wie kann man aus diesem Dilemma herauskommen? Zeiten müssen erhoben werden, aber es soll bitteschön nicht zu teuer und zu aufwändig sein und sie müssen trotzdem stimmen.

Ankunft in der Moderne: Zeitaufnahmen entstauben

Ich meine, man sollte hier die REFA-Methodenlehre etwas entstauben und an die moderne Zeit anpassen. Häufig werden Zeiten in den Unternehmen „nur“ noch für die Arbeitsvorbereitung, Produktionsplanung und Kalkulation und nicht mehr für die Entlohnung benötigt. Das heißt, dass die Zeitaufnahmen nicht so wahnsinnig genau sein müssen – das spart Zeit und Kosten. Bei der Datenermittlung kann man von der Digitalisierung profitieren: Elektronische Zeitaufnahmesysteme wie Ortim, Drigus oder TimeStudy beschleunigen die Vorbereitung, Erfassung und Auswertung der Daten. Sie können mit automatisch erhobenen Daten ergänzt werden. Videoanalysen sind inzwischen ein gängiges Werkzeug der Prozessanalyse – insbesondere beim Rüsten. Die Multimomentstudie kann für mehr als nur die Störzeiterfassung eingesetzt werden. Mit Zeitbausteinsystemen lassen sich einmal erhobene Daten mehrfach verwenden. Last but not least eignet sich das Internet hervorragend für die Wissensvermittlung – auch zum Thema Zeitaufnahmen.

Was ist eine Zeitaufnahme?

So, jetzt habe ich schon so viel über Zeitaufnahmen geredet, dass es vielleicht erstmal an der Zeit ist, diesen Begriff zu definieren. Hier ist meine Definition: Eine Zeitaufnahme ist die gezielte Erfassung der Zeit für einzelne Arbeitsabläufe bzw. Tätigkeiten mit einer Stoppuhr. Das hört sich erst einmal nicht besonders schwierig an. Jeder weiß, wie beim Sport Zeiten gestoppt werden: Mit dem Startschuss beginnt die Uhr zu laufen und beim Überqueren der Ziellinie wird auf Stopp gedrückt. Falls der Lauf etwas länger dauert, werden vielleicht noch Rundenzeiten gemessen oder die Zwischenzeiten nach 5, 10 oder 20 Kilometern – mal als Beispiel genannt. Grundsätzlich funktioniert eine Zeitstudie ähnlich. Allerdings ist der Bewegungsablauf bzw. der Ablauf der Tätigkeiten beim Arbeitsprozess deutlich vielfältiger als bei einem 100-m-Lauf. Zeit messen Und hier entstehen die ersten Fragen:

  • Wie unterteilt man die Arbeitsabläufe am besten?
  • Wo setzt man die Messpunkte für die „Rundenzeiten“, sprich wann ist ein bestimmter Ablauf genau zu Ende und wann beginnt der nächste?
  • Wie fein muss man die einzelnen Tätigkeiten auseinander dividieren?
  • Wie misst man die Zeit, wenn noch ein zweiter Kollege mit einspringt und hilft?
  • Was passiert mit Zeiten für Tätigkeiten, die nur gelegentlich anfallen?
  • Was ist, wenn der normale Ablauf gestört wird?

Für diese und andere Fragen hat der REFA-Verband ein umfangreiches Regelwerk erarbeitet – die REFA-Methodenlehre. Aber wie das so ist mit Regeln: Wenn man sie nicht täglich oder ziemlich regelmäßig anwendet, geraten sie in Vergessenheit.

Die Bedeutung der Zeit: Man kann sie in Geld umrechnen

Eine zweite und ganz wichtige Frage ist die nach dem Zweck der Zeitaufnahmen bzw. erhobenen Zeitdaten. Wenn man diese Frage beantwortet, erkennt man zwangsläufig, dass es für ein Unternehmen extrem wichtig ist, über aktuelle Zeitdaten zu verfügen. Denn die benötigte Zeit kann man in Geld umrechnen, wenn man so will, also in Kosten. Wie funktioniert das? Die Zeitdaten aus den Arbeitszeitstudien sind die Basis der Kalkulation. Mit Hilfe der Zeitdaten kann ich berechnen wie viel Zeit ich brauche, um ein Stück zu fertigen. Daraus wiederum kann ich ermitteln, wie lange meine Maschinen mit der Fertigung belegt sind und wie viel Maschinenkapazität ich benötige, um alle Aufträge oder Serien zu fertigen. Damit wiederum kann ich ausrechnen, wie viele Mitarbeiter diese Maschinen bedienen müssen und wie viel Material ich in einer bestimmten Zeit und zu einem bestimmten Zeitpunkt benötige. Aus diesen Komponenten ergeben sich zwangsläufig die Kosten meiner Produktion und das ist auch der Beweis: TIME IS MONEY.

Warum sind aktuelle Zeitdaten von größter Bedeutung?

Und jetzt schließt sich der Kreis so langsam – wir erkennen, das ein Unternehmen mit uralten und nicht aktuellen Zeitdaten nicht viel anfangen kann, weil dann alle Kalkulationen viel zur ungenau  oder schlimmstenfalls sogar falsch sind. Das Unternehmen kann nicht richtig planen: Der Terminplan für die Maschinenbelegung ist nicht optimal, die Personalbemessung stimmt nicht, das Material wird zum falschen Zeitpunkt bestellt, der Arbeitsplan enthält ungenaue Vorgabezeiten, Auftragszeiten werden möglicherweise viel zu billig (oder zu teuer) kalkuliert, die Deckungsbeitragrechnung liefert falsche Ergebnisse, Make-or-Buy-Entscheidungen werden falsch getroffen. Unterm Strich leiden die Produktivität und Profitabilität des Unternehmens. Sie merken vielleicht – ich spreche hier überhaupt noch nicht von der Entlohnung der Mitarbeiter. Was veraltete Vorgabezeiten hier anrichten, kann sich jeder selbst ausmalen. Für mich haben aber die anderen Faktoren eine viel größere Bedeutung, weil sie strategische Entscheidungen der Unternehmensführung beeinflussen. Die nachfolgende Grafik zum modernen Zeitdatenmanagement (Quelle: Erik Mesenhöller) illustriert dies sehr schön: Modernes Zeitdatenmanagement

Zeitaufnahme versus Technik: Wie können Zeitdaten erfasst werden?

Zeitdaten können auf verschiedenste Art und Weise erhoben werden:

  • natürlich per Messung mit der (elektronischen) Stoppuhr,
  • per Videoanalyse (Filmen eines Ablaufes und anschließende Auswertung des Ablaufes)
  • automatisch mit Betriebsdatenerfassungssystemen (BDE)
  • per Stundenzettel  und andere Formen der Selbstaufschreibung der Mitarbeiter
  • durch die Auswertung von Fahrtenschreibern
  • mit Systemen vorbestimmter Zeiten und Zeitbausteinen (für Planzeiten)
  • durch die Kalkulation von Maschinenzeiten
  • mit Multimomentstudien
  • durch Interviews der Mitarbeiter
  • durch Vergleichen und Schätzen

Jedes Verfahren hat seine Berechtigung und seinen bestimmten Einsatzzweck.

Warum sollte es immer noch Zeitaufnahmen geben?

Wenn ich mir diese Liste so ansehe, gibt es jedoch nur drei Verfahren, bei denen der Zeitnehmer die Abläufe direkt beobachtet: Die Stoppuhr-Messung, die Videoanalyse und die Multimomentstudien (falls diese nicht als Selbstaufschreibung durchgeführt werden). Bei allen anderen Verfahren muss sich der Zeitnehmer auf die erhobenen Daten, Kalkulationen und Angaben der Mitarbeiter verlassen und kann nicht wirklich beurteilen, inwieweit diese die Realität widerspiegeln. Insbesondere die fortschreitende Digitalisierung verführt dazu, alle Daten automatisch zu erheben und ungesehen zu verarbeiten. Hier besteht die Aufgabe der Arbeitswirtschaft in der regelmäßigen Analyse der Zeitdaten und dem Check auf Plausibilität. Dieser Check sollte unbedingt in Form von Zeitaufnahmen (also direkten Beobachtungen) oder Videoanalysen erfolgen. Denn hier dabei kommt der besondere Vorteil der klassischen Zeitaufnahme (und Videoanalyse und Multimomentstudie) zum Tragen – auch wenn diese etwas aufwändiger ist: Der Zeitnehmer sieht die tatsächlichen Abläufe und erkennt so die Potentiale für die Rationalisierung und Prozessoptimierung. Er kommt mit den Mitarbeitern ins Gespräch und ist am Puls der Zeit. Er kann vor Ort direkt nach dem Grund für bestimmte Abläufe fragen und wenn er es richtig macht, stößt er bis zur Ursache eines möglichen Problems vor. So wird die Zeitmessung zum Ausgangspunkt für eine optimale Prozessgestaltung und dient der Verbesserung der Arbeitsorganisation.

Ausblick auf die nächsten Artikel

In den kommenden beiden Artikeln beschäftige ich mich mit den größten Fehlern, die bei Zeitaufnahmen gemacht werden und mit dem Aufwand für die Vorbereitung und Durchführung von Zeitaufnahmen. Ich würde mich freuen, wenn Sie meinen Blog dann wieder besuchen. Damit Sie die Artikel nicht verpassen, können Sie den Blog über den RSS-Feed abonnieren. Ich freue mich auch auf Fragen oder Kommentare zum Thema Zeitaufnahmen.  

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3 Kommentare

  1. Heinz Kraus

    Sehr verehrte Frau Fischer, Kompliment für ihren Artikel bzw. Artikelreihe. Als einer der 6 ersten Schulungsanwender von Ortim A1 und mit nunmehr 30 Jahren Berufserfahrung auf diesem Sektor stimme ich ihnen vollumfänglich zu. Eine Verdummung der Prozessindustire tritt in Kraft die offensichtlich niemand aufzuhalten vermag. Man redet von Lean und weiß manchmal noch nicht einmal wie man zu den Kennzahlen kommt. Bei meiner erst kürzlich abgeschlossenen Qualifizierung zum Black Belt musste ich mit Verwunderung feststellen, das REFA für viele ein Fremdwort war. Die dort erlernten Methoden fand ich in der ganzen Breite zum Bsp. in meine alten Unterlagen zu REFA-. Statistik Lehrgängen wieder.Als kleines Beispiel nenne ich im Lean nur 5S-Programm. Früher hieß das Ordnung und Saubeerkeit am Arbeitsplatz. Mit den besten Grüßen Heinz Kraus

    Antworten
    • Heide Fischer

      Sehr geehrter Herr Kraus,

      vielen Dank für Ihr Lob :). Manchmal habe ich mich schon gefragt, ob ich das nur so sehe… ich freue mich, dass Sie denselben Standpunkt haben!

      Antworten
  2. Rainer Eckert

    Habe Ihren Artikel interessiert gelesen, Frau Fischer. Habe 1999 bei meiner Technikerschule den REFA Grundschein gemacht bzw. auch ein REFA PPS Seminar Produktionsplanung besucht. Leider konnte ich dieses Wissen nie anwenden.
    Heute arbeite ich nach einigen Technikerstellen bei Zeitarbeitsfirmen und befristeten Verträgen wieder in meinem Ausbildungsberuf als Maschinenbaumechaniker. Und viele an der Universität, wo ich jetzt arbeite, wissen nicht einmal mehr, was ein Maschinenbautechniker bzw. der REFA Grundschein ist.
    Schöne neue Zeit!

    Antworten

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